Haben Sie es sich schon einmal auf einem Kirchenfußboden gemütlich gemacht oder gar dort getanzt? Ich persönlich nicht, nun ist es aber möglich. Überzeugen Sie sich selbst!
Am 4. Mai, dem bundesweiten Tag der Städtebauförderung, öffnete die Refo-Gemeinde in der Beusselstraße ihre Pforten und lud zu einer spannenden Führung durch Kirche und Konventsgebäude ein. Anlass war die Sanierung des Fußbodens der Reformationskirche, der durch die Finanzierung über den Baufonds des Programms “Sozialer Zusammenhalt” durch das Quartiersmanagement Beusselstraße realisiert werden konnte. Die rund 300.000 Euro sind gut angelegt, denn der neue Boden ist eine Begegnungsplattform oder eher ein Fundament für alle großen und kleinen Menschen im Quartier und darüber hinaus, gleich welcher Konfession oder auch gänzlich ohne religiösen Hintergrund.
Bei Limonade und selbstgemachtem Apfelstrudel wurden Informationen rund um die Sanierung, die nachbarschaftlichen Aktivitäten der Refo-Gemeinde und das Konventsleben ausgetauscht. Im Vorfeld konnte man sich bei einer Video-Präsentation über die einzelnen Bauschritte informieren, anschließend gab es einen Blick hinter die Kulissen des Konvents. Üblicherweise denkt man bei Kirchen zunächst an die hohen Gewölbe oder verzierten Fenster. Elementar ist aber der Fußboden, denn über ihn wandeln täglich viele schwere und leichte Menschen, er trägt eine Menge Verantwortung und kann die Dauer eines Besuches stark beeinflussen, wenn von Stein oder Fliesen die Bodenkälte heraufzieht.
Der neue Kirchenboden der Refo-Gemeinde bietet nun jede Menge Aufenthaltsqualität. Er ist aus hellem Eichenholz und verfügt über eine Fußbodenheizung, die mindestens die nächsten 50 Jahre halten soll. Diese Wärme und Leichtigkeit verströmt der ganze Kirchenraum, der bereits ohne feste Bestuhlung konzipiert wurde. Hier können nun Tanz- und andere Veranstaltungen durchgeführt werden, wie bereits am 1. Mai 2024 zur festlichen Einweihung geschehen.
Neben dem Kirchengebäude zählen zum Refo-Campus auch ein Kindergarten für 130 Kinder, ein Gemeindesaal, Flächen für verschiedene Workshops sowie für Begegnung und Austausch und Wohnraum für Gemeindemitglieder. Derzeit leben hier rund 60 Menschen für bezahlbare Miete.
Die Geschichte der Refo-Gemeinde mutet an wie eine gelebte Utopie. Hier wurde durch jede Menge Tatkraft und gute Organisationsstrukturen realistisch und mit solider Basis ein lebendiges Beispiel dafür geschaffen, wie auch abseits von konventionellen Strukturen ein erfülltes Gemeinschaftsleben möglich ist.
Die denkmalgeschützte Kirche ist zwischen 1903 und 1907 erbaut worden. Die Nebengebäude und der alte Fußboden stammen aus den späten 1960er bzw. -70er Jahren. Nach einem Brand und der Fusion zweier Kirchengemeinden stand der Komplex leer. Abriss und der Bau von Luxuswohnungen drohten. Doch es kam anders: 2011 überzeugten die Gründer des heutigen Trägervereins Reformationscampus e.V. die evangelische Landeskirche und die kreditgebende Bank mit ihrem Konzept einer neu gelebten Kirche: Das Gelände wurde zur Nutzung für einen Mietpreis von 0 Euro für einen unüblichen Zeitraum von bislang 99 Jahren überlassen und stückweise saniert. Auf dem Gelände sind heute auch der Liberal-Islamische Bund (LIB), die Cantorei an der Reformationskirche, das Theater X, das BALZ und viele weitere Initiativen und Kollektive zu finden. Kostenlos ist jedoch nicht umsonst und so müssen sämtliche anderen anfallenden Kosten selbst getragen werden, d.h. nicht aus Kirchenmitteln bzw. Kirchensteuer. Spenden sind willkommen und Fördergelder müssen beantragt und verwaltet werden.
Die interne Organisation der Menschen, die all das möglich machen, funktioniert über eine dezentrale Entscheidungsstruktur, d.h. dass es keine großen Hierarchien und keinen Pfarrer gibt, der der Gemeinde vorsteht und entscheidet. Vielmehr organisieren sich die Mitglieder “soziokratisch”. Es gibt für die diversen Themen rund um den Campus sogenannte „Kompetenzgruppen“, die sich thematisch aufteilen und in Eigenregie der Dinge annehmen. Die Entscheidung über den Kirchenfußboden wurde jedoch gemeinsam getroffen. Um auf dem Laufenden zu bleiben und eine Qualitätssicherung zu gewährleisten, werden wöchentlich öffentliche Vorstandssitzungen abgehalten.
Man könnte noch jede Menge erzählen über diesen Ort. Besser ist aber, Sie überzeugen sich selbst und erleben die Menschen und Aktivitäten einmal hautnah. Denn es gibt Dinge zwischen „Himmel und Erde“, die sich nicht in Worte und Fotos fassen lassen. Viel Spaß!
Zum Veranstaltungskalender: http://www.refo-moabit.de/termine/
Kontakt: https://www.refo-moabit.de/
Refo-Kirche vor dem Krieg mit großem Turm: https://www.akpool.de/ansichtskarten/79341-ansichtskarte-postkarte-berlin-moabit-beussel-strasse-reformationskirche
Text und Fotos: Kerstin Heinze/GB 2024